Wirtschaftswissenschaftler Gerrit Heinemann im Interview dazu, wie der stationäre Handel die Digitalisierung endlich vorantreiben kann

Professor Gerrit Heinemann ist ein renommierter Handelsexperte sowie Professor für BWL, Management und Handel an der Hochschule Niederrhein. Mit eStrategy Consulting sprach er über den Stand der Digitalisierung des Handels. Professor Heinemann erklärt, wie sich die Digitalisierung auf unterschiedliche Dimensionen und Branchen im Handel auswirkt und was die wichtigsten Themen für den digitalen POS sind bzw. wie gut der stationäre Handel auf die Kunden von heute vorbereitet ist. Darüber hinaus spricht er über die Hürden für lokale Online-Marktplätze sowie die Herausforderung von Verbundgruppen.

 

Prof. Gerrit Heinemann
Professor Doctor Gerrit Heinemann

Economist

Herr Professor Heinemann, Sie verfolgen die Entwicklung im stationären Handel seit vielen Jahren. Wo steht der Handel in Sachen Digitalisierung?

Ich weise bei so einer Frage immer darauf hin, dass es „den Handel“ so nicht gibt, sondern man differenzieren muss. Der Handel ist vielfältig und man muss unterscheiden zwischen FMCG (Fast Mooving Consumer Goods) inkl. Food und Non-Food. Da sieht die Welt schon sehr unterschiedlich aus. Das Thema „Online“ ist bei Food, was die Zuwachsraten betrifft, aktuell gut durchgestartet, aber noch auf niedrigem Niveau. Bis da Online eine große Rolle spielt, werden noch ein paar Jahre vergehen. Damit ist Digitalisierung aktuell eher ein Non-Food Thema und hier muss man sehr nach Warengruppen unterscheiden. So ist das Thema Online bei Büchern und Medien relativ weit gediehen. Dieser Bereich hatte bereits vor einigen Jahren eine Nahtoderfahrung und heute erkennt man, dass selbst kleine Buchhändler keine Berührungsängste mehr in Sachen Digitalisierung haben.

Das ist eigentlich eine Frage der Reihenfolge – die Warengruppen, die zuerst von Amazon angeboten worden, sind auch diejenigen, die am weitesten sind. Auf Platz 2 ist die Warengruppe Elektronik (MediaMarkt, Saturn, usw.). Eine Ausnahme von dieser Entwicklung ist der Bereich „Fashion“, der in Deutschland weit hinterherhinkt. Viele lokale Fashion-Händler haben die Digitalisierung verpasst. Dennoch rate ich vielen lokalen Fashion-Händlern, die bis heute überlebt haben, jetzt nicht durchzustarten, sondern zu überlegen, ob ein Online-Shop wirklich noch Sinn macht, oder ein digitales Schaufenster mit geringeren Online-Marketingspendings und ohne Umsatzdruck nicht sinnvoller ist.

Ich glaube, dass die Kundenorientierung sich heute digital definiert. Doch der stationäre Handel ist derzeit dafür nicht ausreichend ausgestattet. 76 % der stationären Händler haben nicht einmal ein Warenwirtschaftssystem.

Generell muss man zwischen den Branchen stark differenzieren. Zufällig steht heute in der Rheinischen Post ein Artikel, in dem ich zu diesem Thema zitiert werde, bezüglich der Frage, ob die Entwicklung so weitergeht? Ja, ich glaube, es bleibt die nächsten Jahre zweistellig, aber es verlagern sich die Warengruppen. Die ersten Warengruppen kommen an ihre Grenzen, – das sieht man auch an den Wachstumsraten – Bücher / Medien haben jetzt auch nur noch ein einstelliges Wachstum gehabt. Aber diese Branche hat auch bereits einen Online-Anteil von 50 %. Hier liegt ungefähr die Sättigungsgrenze. Schätzungsweise im Bereich 50 / 50 wird sich das Verhältnis einpendeln.

Die Branchen Elektronik und Fashion werden in eine ähnliche Situation kommen. Die größte Veränderung findet derzeit bei Warengruppen mit relativ geringem Online-Anteil statt. Hierzu gehören: Baumärkte (Hornbach stellt eine positive Ausnahme dar), Möbel und Lebensmittel. Das sind sehr große Warengruppen, in denen allein schon vom Volumen her ein gigantisches Potential steckt. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich der Grad der Digitalisierung je nach Warengruppe sehr unterschiedlich entwickelt.

In einem Beitrag in der Zeitschrift Internet World aus dem März 2021 zur Zukunft des Point of Sale sprechen Sie von einer ‘Scheindigitalisierung’. Wie ist der Stand der Digitalisierung im Einzelhandel?

Die Digitalisierung darf nicht hinter der Ladentür aufhören. Wenn Händler sich dazu entschließen, sich zu digitalisieren und z.B. digitale Umkleidekabinen einrichten, dann stellt sich grundsätzlich die Frage nach dem Gesamtkonzept. Die Online-Händler machen es vor, wie man den stationären Handel neu erfinden kann. Beispielsweise Amazon Books und Whole Foods, die jetzt in Amazon Fresh umbenannt wurden, und auch innovative D2C-Anbieter in den USA haben gezeigt, wie ein sehr interessantes Gesamtkonzept aussehen kann. Der Laden selbst ist hierbei nur ein Baustein der Multichannel-Gesamtstruktur. Die wirklichen digitalen Innovationen sind im stationären Handel nicht unbedingt für die Kunden sichtbar.

Die Entwicklung hat sich aufgrund von Corona stark beschleunigt. Im Grunde tritt jetzt das ein, was in 10 Jahren erwartet wurde. Die rasante Entwicklung sehe ich aber durchaus als Chance. Ich glaube, in Zukunft wird es in den Städten deutlich weniger Geschäfte geben.

Ich glaube, der neue stationäre Handel wird App-basiert stattfinden. Eine App, die den stationären Kunden ermöglicht, kontaktlos, schnell, eigenständig, ohne jemanden fragen zu müssen, ohne irgendwo anstehen zu müssen und stationär einkaufen zu können. Das wird App-basiert abgebildet. Die Online-Händler machen dies bereits vor.

Unsere Studie zur Digitalisierung im Einzelhandel unterscheidet im Bereich der digital unterstützen Kundenerfahrung im POS unterschiedliche Dimensionen wie Entertainment, Store-Navigation, Product-Information, Payment, Loyalty. Welche Themen sind für den stationären Handel besonders wichtig?

Die Basis des zukünftigen Einzelhandels liegt im kundendatenbasierten Arbeiten. Dabei handelt es sich um Kundendaten, die erst einmal gesammelt werden müssen. Ganz wenige stationäre Händler haben das verstanden und sammeln bereits diese Daten mit Kundenkarten. Auch für stationäre Händler sind die zentralen Themen CRM und Kundendaten. Selbst wenn noch kein Onlineshop vorhanden ist, sollten Kundendaten genutzt werden, um personalisierte Kundenerfahrungen zu ermöglichen. Wobei das Thema Onlineshop auch immer mit Investitionen verbunden ist.

Wenn ein Händler stationär erfolgreich war, stellt sich die Frage, welche Rolle spielt der Onlineshop? Ist es vielleicht eher das digitale Schaufenster und der Kunde kommt trotzdem noch ins Geschäft? Dann ist der Anspruch möglicherweise nicht 50 % Online-Anteil zu erreichen und das Ziel personalisierte Kundendaten geschickt auszuspielen. Der Ausgangspunkt sind die Kundendaten. Um die Kundendaten herum sollte alles andere aufgebaut werden. Der Kunde, der mit dem Smartphone in den Laden kommt, der hat das Internet immer dabei.

Somit lässt sich der stationäre Kauf digitalisiert abbilden. Stationär und digital scheint einen Widerspruch darzustellen. Das ist es aber nicht. Ich glaube, dass die Kundenorientierung sich heute digital definiert. Doch der stationäre Handel ist derzeit dafür nicht ausreichend ausgestattet. 76 % der stationären Händler haben nicht einmal ein Warenwirtschaftssystem. Ich glaube, dass die Anbieter lokaler Online-Marktplätze behaupten, dass ein Warenwirtschaftssystem nicht benötigt wird, sie zugleich aber die Verfügbarkeit anzeigen wollen… wie soll das gehen? Hier müssen die Grundlagen erst einmal erfüllt werden, um die Schnittstellen für eine Digitalisierung herzustellen.

Danke, dass Sie das Thema der lokalen Online-Marktplätze ansprechen, welche wir seitens eStrategy Consulting ebenfalls im Rahmen einer Studie untersucht haben. In Zeiten des Lockdowns beschäftigen sich aktuell viele Städte damit, wie sie den stationären Handel unterstützen können. Wie ist denn ihre Haltung zu diesen Initiativen?

Es gibt über 100 Initiativen und ich stelle fest, rein stadtbezogen, widerspricht ein echter regionaler Marktplatz dem Grundgedanken eines Marktplatzes und kann deswegen nicht funktionieren, da es um pure Reichweite geht. Alle stadtbezogenen Online-Marktplätze sind gescheitert oder werden zukünftig noch scheitern. Der nächste Schritt ist eine städteübergreifende Tätigkeit, wie es z.B. mit der atalanda-Plattform gemacht wird. Dieser Schritt kann durchaus Sinn machen. Aber man muss dabei bedenken, dass der Zielumsatz in der Regel im Vorhinein auch investiert werden muss. Das Verhältnis ist ca. 1:1.

An dieser Hürde scheitert es denn runtergebrochen auf einen regionalen Marktplatz und einen möglichen Fair-Share Online-Umsatz, der erreicht werden sollte, sprechen wir dann bei mittelgroßen Städten schnell von zweistelligen Millionenbeträgen, die investiert werden müssen. Hierfür fehlen oftmals die Ressourcen, um eine realistische Umsetzung hinzubekommen. Ich habe bis heute noch nie einen Businessplan gesehen, einen durchgerechneten, detaillierten Businessplan für einen regionalen Online-Marktplatz, der funktioniert. Und die Umsatzfrage ist in der Regel tabubeladen .

Ein anderes Stichwort waren die kleinen, inhabergeführten Einzelhändler, welche in der Regel zu einer Verbundgruppe gehören. Gerade diese Verbundgruppen haben aufgrund ihrer dezentralen Organisationsform große Probleme in Sachen Digitalisierung. Waren sie einst Infrastruktur-Provider für Ihre Mitglieder. Übernimmt diese Aufgabe zunehmend ein Amazon oder ein anderer Akteur?

Ich stelle immer wieder fest, dass Verbundgruppen eine rein opportunistische Veranstaltung sind. Diese Verbundgruppen werden dezentral organisiert, d.h. demokratisch, und das führt in der Regel zu suboptimalen Kompromissen. Ähnlich wie bei den Städten hapert es zumeist an der Investitionsbereitschaft. In den Aufsichtsräten bzw. Beiräten der Verbundgruppen sitzen vielfach Händler, die eher eine Digitalallergie haben. Ich glaube, die Verbundgruppen müssen sich neu erfinden. Zalando hat ja bereits mit dem Connected-Retail bereits rund 4000 Europäische Händler als Mitglied an die eigene Plattform angebunden. Die brauchen nur den Hebel umzulegen, um auch Verbundgruppe zu werden, denn Zentralregulierung ist ja nun wirklich trivial.

Das ist aber das Einzige, wovon eine Verbundgruppe heute noch von lebt – von der Zentralregulierung. Bei den Lieferanten irgendwo was abzuzwacken und dann den Mitgliedern auszuschütten und so zu tun, als wenn es eine Verbundgruppenleistung wäre, das ist völliger Quatsch. Die Kondition, die vorne abgezwackt wird, die fehlt dann hinten. Das Thema Connected Retail wird aller Voraussicht nach auch in anderen Branchen nach Zalando-Vorbild stattfinden und der Plattformbetreiber wird dann die Funktion der Verbundgruppen übernehmen.

Viele der inhabergeführten Einzelhandelsgeschäfte scheinen noch ganz am Anfang in Sachen Digitalisierung zu stehen. Einige der großen Filialisten bemühen sich um Traktion im Digitalen Wandel und kämpfen um Marktanteile, während bspw. Amazon immer wieder Schritte in den stationären Handel wagt. Unsere abschließende Frage an sie ist: Wie sieht der stationäre Handel in 5 oder 10 Jahren aus?

Anders! Die Entwicklung hat sich aufgrund von Corona stark beschleunigt. Im Grunde tritt jetzt das ein, was in 10 Jahren erwartet wurde. Die rasante Entwicklung sehe ich aber durchaus als Chance. Ich glaube, in Zukunft wird es in den Städten deutlich weniger Geschäfte geben. Daher müssen die Städte entscheiden, ob sie die Geschäfte leer stehen lassen oder anderweitig nutzen können. Es wird weniger Städte geben, die versuchen, sich als Shoppingstadt zu positionieren, denn dadurch wird mehr Leerstand induziert. Je größer die Stadt, desto weniger Probleme gibt es den Handel zu halten. Allerdings Ausfransungen in den Randlagen erscheinen möglich. Da muss eine Stadt aufpassen. Es könnte zu einer Konzentrierung des Handels, verteilt auf wenige Straßen kommen.

Die Relokation von Händlern könnte ebenfalls ein Thema werden. Generell wird es aber deutlich weniger lokale Geschäfte geben. Vor allem die kleinen Händler sind betroffen. Dafür wird es deutlich mehr Mono-Label-Stores geben und viele Städte werden keine Autos mehr in der Innenstadt zu lassen. Wenn dabei nicht der öffentliche Nahverkehr massiv aufgerüstet wird, gerät der Handel auch von der Seite unter Druck. Weiterhin stellt sich die Frage, was mit den Shoppingcentern passiert. Ein Einkaufscenter in der Innenstadt macht beispielsweise das Problem nur noch größer.

Der Online-Anteil wird hingegen weiter wachsen. Zalando will bis 2025 das Bruttowarenvolumen (GMV) auf der Plattform verdreifachen. Dahinter steht aber auch ein hoher Anteil Connected Retail, worüber dann auch lokale Händler verkaufen. Das stationäre Handel muss sich neu erfinden und unabhängiger von stationären Umsätzen werden, weil es Kostenprobleme gibt. Es muss über flexiblere Mieten, flexible Öffnungszeiten, kleinere Läden, mehr Showrooms, nachgedacht werden, um trotz geringerer Kosten präsent zu sein. Es gibt auch interessante Konzepte wie Retail as Service, wobei sich alles um die Kundenerfahrung dreht. Aber auch das wird die Städte nicht retten können.

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